„Denn ein
glückliches, friedvolles Leben war und bleibt unser gemeinsames
Familienprojekt.“
Gila
Lustiger zeichnet die Chronik einer jüdischen Familie im 20. Jahrhundert
(Copyright: Berlin Verlag GmbH, Rothfos & Gabler)
Arno Lustiger,
1924 geboren, ist Auschwitz-Überlebender. Er hat die Angewohnheit Zeitung zu
lesen, Ausschnitte herauszureißen und sie dann wieder zu verlieren. „Mein
Vater sammelte die Meldungen aus einem Grund: Er hatte sich einmal von der Welt
überrumpeln lassen, das sollte ihm nie wieder geschehen.“ So begründet
Erzählerin Gila das Verhalten ihres Vaters. Aus den Zeitungen konnte er
herauslesen, welche Gefahren in der Welt lauerten.
Gila Lustiger
zeichnet mit ihrem Familienroman So sind wir die Chronik einer jüdischen
Familie im 20. Jahrhundert. Eine Sonderstellung nimmt dabei der Krieg ein. “Die
Häuser meiner Familien sind geplündert worden, denn es hat sie alle erwischt,
ganz unabhängig von ihrer sozialen Stellung.“ Noch als Junge wurde ihr
Vater Arno Lustiger als polnischer Jude deportiert. Er lebte dann in sieben
Konzentrationslagern und überlebte zwei Todesmärsche. Während des zweiten
Marsches im Jahr 1945 gelang es ihm zu fliehen. Er wurde von Amerikanern
aufgegriffen. Doch davon erfährt Gila erst zufällig, als sie eines Tages mit
ihrem Sohn durch eine Pariser Buchhandlung schlendert und dort in einem
Sammelband die Fluchtgeschichte ihres Vaters entdeckt. Er selbst hatte ihr nie
davon erzählt. Er – Vater Lustiger ist eine zentrale Figur dieses Romans.
Zentral sind auch die Orte Polen, Deutschland, Russland, Frankreich und Israel – denn diese spielen in der Geschichte der Familie Lustiger eine Rolle. Zwar viele Orte aber kein Zuhause? Vielleicht verweist das auf die erbärmliche Lage der Juden zum großen Teil des 20. Jahrhunderts. Auf eindrucksvolle Weise vermittelt Gila Lustiger dem Leser die Geschichte der Juden. Und der deutsche Leser, auch wenn er selbst nicht an dem nationalsozialistischen Geschehen beteiligt war, bekommt fast schon ein schlechtes Gewissen. „Und während die Deutschen das Wirtschaftswunder feierten und das Fräuleinwunder und das Elektrotechnikwunder und das Fahrzeugbauwunder und das Weißderkuckuckwunder, war bei uns Eiszeit.“ Es scheint, als wolle die Autorin absichtlich provozieren. Sie kritisiert u.a., dass Juden immer nur als „Überlebende“ gesehen werden. Entgegen schmettert sie: „So sind wir nicht!“ Denn Juden sind auch „Lebende“.
Zeitungen, ein
Briefbeschwerer in Form einer Kristallkugel, eine geliebte Puppe – mit diesen persönlichen Gegenständen der Familie und
der Verwandten versucht die Erzählerin den Spuren der Vergangenheit zu folgen.
Und so berichtet sie von ihren Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten und Cousinen.
Geschichten von Schwester Rina und Mutter Drora stehen gleichauf neben denen
der jiddisch-sprechenden Großeltern aus Israel. Es geht um die Deutschen, die
Juden und die Israelis. Es geht um die Familie.
Bemerkenswert
ist, wie Gila Lustiger die meist ernsten Themen in der Familie mit Sprachwitz
und Selbstironie an den Leser bringen will. Man kann wohl auch von einem
gewissen Anteil an Fiktion ausgehen. Im zweiten Kapitel des ersten Teils des
Romans beispielsweise verteidigt die Autorin ihren Stil sich auszudrücken und
die Verwendung des von ihr Erdachten. „Ich habe [das] eben erfunden […] weil
ich einfach erfinden muss. Ein Grund ist wohl, dass ich mir den Leser vorstelle
und sein ganz und gar gleichgültiges Gesicht, während ich mich langsam Satz für
Satz vor ihm entblöße. Ich kann das nicht ertragen, und deshalb erfinde ich
gewissenhaft.“ So füllt sie die Lücken der Familienchronik mit Fantasie.
Das
unausgesprochene Gebot der Familie Lustiger, „Du sollst nicht über Gefühle
sprechen, […] und ganz bestimmt nicht über solche, die ein glückliches,
friedvolles Leben sabotieren“, scheint angesichts des historischen
Hintergrunds bedeutend. Im Roman ist vor allem die Vergangenheit präsent. Über
die Gegenwart kann der Leser nur etwas erfahren, wenn er sich bereits mit dem
Vergangenen beschäftigt hat. Die Gegenwart gehört in diesem Roman zu den Randbemerkungen.
Gila Lustiger schrieb mit diesem, ihrem dritten Roman im Jahr 2005 mehr als nur
einen gewöhnlichen Familienroman, mit dem sie im gleichen Jahr auf die
Shortlist des Deutschen Buchpreises gesetzt wurde. Ein ansprechender,
eingehender Roman über das Leben der Juden im 20. Jahrhundert, der anhand einer
Familie zeigt, wie die Auswirkungen der NS-Zeit bis heute bei den Betroffenen
nachwirken.
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